Hier ein Essay von Holger Heiten, dem Leiter des Eschwege-Instituts.

Fazit: Je wirrer die Zeiten werden,  desto wichtiger ist es, in deiner Mitte zu bleiben und deine Mitte zu spüren.

Herzlichen Einladung dazu in meinen Yogastunden!!! Viel Freude beim Lesen jetzt.

 

 

Gehorchen und Gehören

 

Der erscheint mir als der Größte,
der zu keiner Fahne schwört,
und, weil er vom Teil sich löste,
nun der ganzen Welt gehört

Rainer Maria Rilke
 
In diesen Tagen hört man allenthalben wieder das großartige Hannah Ahrendt Zitat, dass keiner das Recht habe zu gehorchen. Was ich richtig finde, wenn es sich um verbrecherische oder verführerische Anweisungen handelt, zumal wenn sie von anderen Menschen kommen, die sich ungefragt über uns stellten. Gehorchen ist nur ein anderes Wort für gehören heißt es zu Recht und es klingt aber, als sei es grundsätzlich verwerflich zu gehorchen.
 
Wenn ich jedoch annehmen kann, dass ich mir selbst gehöre, dann bekommt das Gehorchen eine ganz andere Konnotation. Die Vorsilbe „Ge-“, weist in der deutschen Sprache, außer bei Zeitformen, wie etwa „gelaufen“, „gegeben“ usw., auf die vertikale Sinnrichtung, also auf die Tiefendimension unseres Seins hin. Deutlich wird das bei Begriffen wie „Gefühl“ oder „Gewissen“, die fühlbar auf etwas Tieferes Hinweisen als auf das bloße Fühlen und Wissen.
 
Wenn jemand, der oder die sich selbst gehört gehorcht, dann ist er oder sie ganz bei sich in der eigenen Mitte und horcht von dort aus nach tief innen, auf die Stimme des Gewissens oder des Gefühls. Diese Stimme kann unter Umständen aus solchen Tiefen zu uns her klingen, dass ihr Ursprung weit vor dem selbst Erlebten liegt und schon mehr eine „Ahnung“ ist, ein kollektiv unbewusstes Erinnern, wie der Psychiater C G Jung es nannte. Im Moment einer Erleuchtung, einer Seins-Erfahrung, wenn wir uns im „Nunc Stans“ befinden, dem vom heiligen Augustinus so beschriebenen „Jetzt das steht und nicht vergeht“, loten wir uns bis zur Quelle aller Quellen hin aus, bis zum Ur-Laut „Aum“ der Hindus und zum „anfänglichen Wort“ der Christen. So wird Gehorchen über das wahrhaftige „Sich-selbst-gehören“, ein Hören auf jene allverbindende, zeitlose, omnipräsente und schöpferische Gegenwart, die manche Gott oder Göttin und andere das große Mysterium nennen.
 
Solches Gehorchen würde so manches Leid und Unheil verhindern, da das was wir so empfangen anders motiviert ist als unser Ego, unser verletztes und bedürftiges innere Kind, oder unser Bewusstsein das der großen Lüge erlegen ist, wir seien einzelne und unabhängig voneinander existierende Wesen. Die tiefste Quelle aller Stimmen ist identisch mit der Quelle von allem, jedem und jeder, weil sie der Ursprung ist, die absolute Einheit, aus der alles andere hervorkam, bzw. in jedem gegebenen Augenblick entspringt. Es ist die Stimme der Allverbundenheit, der Alleinheit. Wer sich selbst gehört und gehorcht gehört somit der ganzen Welt.
 
Um jetzt den Bogen zu den aktuellen Ereignissen und den uns alle betreffenden Wandlungs- und Umbruch-Prozessen zu schlagen, muss ich zunächst etwas ausholen und drei für mich bedeutenden Menschen zitieren:
 
Joanna Macy, die Grande Dame der Tiefenökologie, bzw. der „Arbeit die wieder verbindet“, prägte die Begriffe „Der große Zerfall“ und „Der große Wandel“. Gemeint sind damit zwei gegenläufige Entwicklungen, die je nachdem welche schneller sein wird, eben entweder zu einem totalen Zusammenbruch aller uns tragenden Systeme führen werden, oder eben doch noch zum großen Wandel, zu einer Wende die den Zerfall aufhalten könnte.
Der Autor und Verfechter der Integralen Theorie Ken Wilber stellte kürzlich heraus, dass die Menschheit inzwischen die kritische Masse erreicht hat, also einen prozentualen Bevölkerungsanteil, den es braucht, um den großen Wandel herbeiführen zu können. Das sind sehr gute Nachrichten, heißt das doch, dass wir eine Chance haben es durch diese enorme Krise zu schaffen und dass sich auf einer neuen Ebene eventuell wieder ein Gleichgewicht einstellen könnte.
 
Ein weiteres Vorbild im Eschwege Institut, nämlich Eileen Caddy, die Mitbegründerin der Findhorn Gemeinschaft in Schottland, berichtete wenige Jahre vor ihrem Tod von einer Vision von der auf uns zukommenden Zeit. Sie sah ein „Tumble Weed“, also einen dieser kugelförmigen verdorrten Büsche, die in Westernfilmen immer durch die Wüste wehen und kullern. Sie sah ihn sich immer schneller drehen und damit als Metapher für die immer höher werdende Taktung und die immer schnellere Folge von Ereignissen in unserer Welt. Sie sah dann, wie aufgrund der Schwerkraft die Dinge, die sich an dessen Peripherie befanden, nach und nach fortgeschleudert wurden. Nur was sich im Zentrum des sich immer schneller drehenden Busches befand konnte bestehen. Deshalb wies Eileen immer wieder darauf hin, wie wichtig es sei sich immer und immer wieder zu zentrieren, um diese apokalyptische Phase der Weltgeschichte überstehen, bzw. weiterhin beeinflussen zu können.
 
Jeder / jede von uns kennt eigene Wege sich zu zentrieren. Während der eine meditiert, gelangt die andere durch Körperarbeit oder Waldspaziergänge in ihre Mitte. Was immer uns wirksam wieder und wieder in unsere Mitte führt ist im ethischen Sinne des Wortes gut, denn wie ich in meinem Buch Trance und Chance herausgearbeitet habe, haben wir nur über diese Mitte Zugang zu jener tiefen Auslotung in unser Gewissen und unser Gefühl. Nur wenn wir in unserer Mitte sind können wir, wie weiter oben beschrieben, gehorchen und eine Ahnung davon haben, was zu tun ist. Nur über diese Rückverbindung (lateinisch: Religio – die sprachliche Wurzel für das Wort Religion) kann jener Ur-Laut aus dem Ursprung aller Dinge, bis zu uns durchklingen und uns zur „Person“ machen (Per-sonare – lateinisch für: Der Ton klingt hindurch). Was die auf uns zu kommende Zeit braucht sind „Persönlichkeiten“ in diesem Sinne, sind aufrechte, strahlende und erklingende Menschen, die sich in ihrer Tiefe mit allem und allen verbunden und eins wissen, die in sich Himmel und Erde verbinden und deren Eingebungen in Handlungen umsetzen können.
 
Wir leben in einer apokalyptischen Zeit und in einer alles entscheidenden Phase unserer Geschichte. Nichts wird so bleiben wie wir es kennen und die kommenden Ereignisse werden uns in das schicken, was wir gerne das „Don´t know land“ nennen. Was für viele eine beängstigende Vorstellung ist, ist jedoch eine wichtige Phase in jedem Wandlungsprozess, in jeder Initiation. Die Erschütterung unserer Konzepte vom Leben und von der Welt, birgt die besondere Chance in sich, über unsere Wirklichkeits-Trance hinaus auf andere und größere Wirklichkeiten und Lösungen zu blicken, die dann plötzlich möglich erscheinen. Es muss uns sozusagen zunächst mal die Brille kaputt gehen, durch die wir die Welt bisher sahen, um dann auf all das aufmerksam zu werden, was sie ausgeblendet hatte.
 
Es kommt auf uns an. Wenn wir uns zu dem für den großen Wandel notwendigen prozentualen Bevölkerungsanteil zählen, kommt es jetzt auf uns an und darauf, dass wir Haltung bewahren. Haltung bewahren heißt im Sinne des bisher Gesagten, unsere Mitte zu behalten und von dort aus unseren Standpunkt zu vertreten. Verglichen mit den noch auf uns zukommenden Ereignissen, sind die Herausforderungen durch die Corona Pandemie wahrscheinlich eher harmlos. Ich beobachte jedoch mit Schrecken, wie einige von uns schon jetzt, bei dieser ersten Herausforderung zu einer Fahne greifen, schon jetzt den Zustand des Nichtwissens nicht länger aushalten können und bereit sind jeden Unsinn zu glauben, der ihnen erzählt wird, Hauptsache es erklärt ihnen die Ereignisse wieder. Ein solches Verhalten können wir uns nicht leisten. Wir dürfen uns nicht erlauben uns von irgendeiner politischen Strömung mit- und von unserer Mitte weg- ziehen zu lassen, denn bisher wurde noch jede politische Revolution den guten Menschen gestohlen, die sie erkämpft hatten. Wenn wir, wie in Rilkes Gedicht angedeutet, zu einer Fahne schwören und diese ergreifen, wenn wir uns im Wirrwarr der Meinungen, einer von ihnen anschließen, dann ist es als legten wir im Tausch dafür die Fackel unserer einzigartigen Wahrheit nieder. Nur von unserer Mitte her kennen wir unsere Wahrheit und wir können unseren Standpunkt nur vertreten, wenn wir auch auf ihm stehen. Wahrer Widerstand ist es aus meiner Sicht, schlicht der eigenen Wahrheit treu und dem eigenen Gewissen verpflichtet zu bleiben.
 
Bloßes „Dagegen sein“ kommt oft nicht aus jener Mitte, sondern ist meist eine emotionale Reaktion auf alte und unbearbeitete Verletzungen. Zurzeit kann man beobachten, wie z.B. die wieder schärfer werdenden Corona Bestimmungen, unter anderem auch alte und nicht verheilte Wunden der Bevormundung und Unterdrückung triggern, wie sie uns zum Beispiel im Elternhaus oder von staatlicher Seite zugefügt wurden. Solches Dagegen sein ist eben emotional und kommt nicht vom Gefühl oder Gewissen her. Es ist einer Sache fast immer unangemessen, provoziert ebensolche Reaktionen und reicht nicht aus, um eine echte und nachhaltige Änderung herbei zu führen.
Dass wir emotional reagierten, merken wir oft dann erst wieder, wenn wir im wahrsten Sinne des Wortes wieder zu uns kommen und erst recht, wenn wir dann in unserer Mitte sind.
 
Es ist ein wichtiger Bestandteil von Wachstumsprozessen, die eigene Mitte immer wieder zu verlieren, um sie dann auf höherer Ebene wiederfinden zu können. Deshalb würde ich es nie verurteilen, wenn es passiert. Emotionale Ausbrüche, wie sie zurzeit häufiger werden, sind menschlich und geben uns einen wunderbaren Hinweis auf ein unbearbeitetes Thema, also auf Hausaufgaben, die noch zu machen sind. Sie dürfen jedoch nicht zur unbewussten Antriebskraft politischer Agitation werden, denn das hatten wir in unserer Geschichte schon zu oft.
 
Nichts darf uns jetzt dauerhaft aus unserer Mitte bringen, denn nur von dort her bekommen wir die Kraft durch diese Krise zu kommen und die Ahnung, was zu tun ist, um den großen Wandel zu ermöglichen. Wenn jeder*jede an seinem*ihren Platz Haltung bewahrt und entsprechend handelt, wird sich der große Wandel von selbst verwirklichen.
Der chinesische Philosoph Laotse sagte es bereits im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung so:
 
Das Tao tut nie etwas
und doch werden alle Dinge durch es getan.
Wenn kraftvolle Männer und Frauen
sich in es zentrieren könnten,
würde sich die ganze Welt, durch sich selbst
und in ihrem natürlichen Rhythmus verwandeln.
 
Charles Eisenstein, der amerikanische Mytho-Poet und Vordenker einer „New Story“ unserer Kultur,  weist immer wieder darauf hin, dass es Bestandteil unseres alten kulturellen Mythos ist, von einem mechanistischen Weltbild auszugehen, in dem wir unabhängig existierende Einzelteile sind. Wenn wir uns mit einem neuen kulturellen Mythos also erzählen wollen, dass wir im Grunde alle eins und miteinander verbunden sind, dann kann man nicht mehr sagen, dass es wichtiger sei sich zunächst um den Klimawandel zu kümmern und erst dann um einen einsamen Menschen im Altersheim. In einer solchen New Story ist alles, was wir, unserer inneren Stimme, unserem Herzen folgend tun, ein gleich wichtiger Beitrag zum großen Wandel. In der „Old Story“ wurden besondere Persönlichkeiten, wie etwa Albert Schweitzer hervorgehoben und zum Vorbild von Generationen gemacht. In der New Story ist das Leben und Handeln seiner Großmutter ebenso wichtig. Evtl. war es ihr gutes Herz in der Erziehung ihrer Tochter, das diese zu jener Mutter werden ließ, die einen Albert Schweitzer hervorbrachte. Wir sind die Ahnen von morgen, was wissen wir schon, wie welcher, auf den ersten Blick unscheinbarer Akt der Liebe sich für unsere Nachfahren auswirken wird.
 
Alles was wir wissen können ist, dass es immer erstrebenswert sein wird, sich selbst zu gehören, sich immer wieder neu zu zentrieren und auf die innere Stimme zu horchen.
 
  
Holger Heiten, 13.10.2020